Virtuelle Hauptversammlungen :
„Man muss die Halle spüren“

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Alles unter Kontrolle: Blick hinter die Kulissen einer virtuellen Hauptversammlung bei Lufthansa
Der Aktionärsschützer Marc Tüngler ist kein Freund der virtuellen Hauptversammlung. Ein Gespräch über technische Pannen, Selbstdarsteller und Wirtschaftsprüfer auf den Aktionärstreffen.
Viele Hauptversammlungen waren in diesem Jahr virtuell. Sie waren auf etlichen dabei. Wie ist es bislang gelaufen?

Sperrig. Oft kam es zu technischen Pannen. Teils fiel die Technik aus, es gab ohne Ende Pausen. Manchmal wussten die Aktionäre zu Hause vor ihren Laptops gar nicht, ob die Versammlung noch läuft. Wir haben eine ganze Liste von Pannen dokumentiert, darunter Covestro, TUI und Siemens Energy. Die virtuelle Hauptversammlung von Covestro hat mehr als neun Stunden gedauert, dreieinhalb Stunden davon gingen für Pannen drauf.

Sind das nicht normale Kinderkrankheiten eines neuen Formats?

So redet sich die Industrie jetzt raus: alles Einzelfälle angeblich, man brauche halt etwas Zeit. Tatsächlich läuft die Hauptversammlungssaison jetzt schon mehr als vier Monate, wir sind in der zweiten Halbzeit. Es hat sich nichts gebessert.

Und jenseits der Pannen? Sie haben gesagt, das virtuelle Format würde der Beziehung zwischen Eigentümern und Managern nachhaltig schaden. Wieso?

Mein Eindruck ist: Viele Unternehmen flüchten mit der virtuellen Hauptversammlung vor ihren Eigentümern. Es wird sich irgendwann rächen, wenn die Aktionäre den Dialog suchen, die Vorstände sich aber abschotten. Die virtuelle Hauptversammlung ist ein deutscher Sonderweg. Die Aktionäre etwa in Frankreich und Holland treffen sich längst wieder in Präsenz. Wir sind das einzige Land, in dem das virtuelle Format nach der Pandemie noch so kultiviert wird.

Marc Tüngler ist Hauptgeschäftsführer der Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz.
Marc Tüngler ist Hauptgeschäftsführer der Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz.Wolfgang Eilmes
Sie selbst reden auf etwa 35 Aktionärstreffen im Jahr und gehören damit zu den bekanntesten Hauptversammlungsrednern in Deutschland. Während der Pandemie durften sie höchstens mal kurze Videos einschicken, die dann gezeigt wurden. Wie war das?

Schrecklich. Ich war da teilweise der einzige, der ein Videoschnipsel eingeschickt hat. Das kann ich auch verstehen, es lohnt sich einfach nicht. Ich habe insgesamt in den drei Jahren Pandemie etwa 50 bis 60 kurze Videos gedreht. Aber es hat sich gezeigt, dass sich die Videos kaum jemand ansieht, die Onlineabrufzahlen sind wirklich niedrig. Manchmal war das Video nur schwer zu finden.

Von den 40 Dax-Unternehmen haben in diesem Jahr 28 zu rein virtuellen Treffen eingeladen, nur zwölf haben ihre Aktionäre zu einem Präsentreffen geladen. Wie war es bei kleineren Unternehmen?

Es sind hauptsächlich die großen Unternehmen, die sich im virtuellen Format verstecken. Je kleiner die Unternehmen, desto eher wählen sie das Präsenzformat. Im M-Dax sind es nach den bisherigen Ankündigungen schon 24 in Präsenz und 20 virtuell; im S-Dax bislang 39 Präsenz und 25 virtuell.

Was gefällt den Großen am Virtuellen?

Sie haben mehr Kontrolle über den Verlauf der Treffen. Viele Manager und deren Juristen haben Angst davor, die Stimmung nicht kontrollieren zu können.

Das ist ja auch so …

Die meisten Hauptversammlungen sind völlig unspektakulär. Wenn es turbulent wird, dann meist aus gutem Grund. Denken Sie an die Bayer-Hauptversammlung 2019, auf der die Aktionäre dem damaligen Bayer-Chef Werner Baumann nach dem Monsanto-Desaster, das die Aktionäre viele Milliarden gekostet hat, die Entlastung verweigert haben. Eine Präsenzhauptversammlung kann für den Auf­sichtsrat ein wertvoller Gradmesser sein, eine Art Fieberthermometer, wie die Stimmung unter den Investoren ist. Dafür muss man die Halle spüren. Ein guter Aufsichtsrat saugt wie ein trockener Schwamm auf, was die Aktionäre dort sagen.

Hören die Aufsichtsräte den Aktionären tatsächlich zu?

Ja, das sollten sie und tun sie auch. Es sind eher die Vorstände, die sich sorgen, dass die Stimmung kippt und daher froh sind, wenn sie diesen Tag ausgestanden haben. Im Präsenzformat können Aktionäre viel besser sehen, ob ihnen wirklich zugehört wird.

Das virtuelle Format hat aber auch Vorteile für die Aktionäre: Sie können sich aus der ganzen Welt zuschalten, ohne lange Anreisewege in Kauf zu nehmen.

Das betont die Industrie gerne. Aber sind wir mal ehrlich: Niemand an der US-Westküste steht mitten in der Nacht auf, um an einer deutschen Hauptversammlung teilzunehmen.

Virtuelle Hauptversammlung von Siemens im Februar 2023
Virtuelle Hauptversammlung von Siemens im Februar 2023Picture Alliance
Viele Unternehmen sagen, die Anwesenheit sei gestiegen.

So argumentieren sie gerne, aber das stimmt nicht. Der steile Anstieg der Anwesenheit lag schon vor der Pandemie, seit 2018 stagniert die Anwesenheit auf hohem Niveau bei etwa 67 Prozent des Grundkapitals. Wenn den Unternehmen wirklich so wichtig wäre, dass jeder Aktionär von überall teilnehmen kann, dann wäre doch das hybride Format eigentlich das richtige. Also ein Präsentreffen, bei dem man sich wahlweise online zuschalten kann. Solche Treffen sind rein gesetzlich schon seit 14 Jahren erlaubt, aber die Industrie wollte nie etwas davon wissen – bis heute. Dabei ist das Hybridformat eindeutig das Wunschmodell der Aktionäre. Wir haben eine Umfrage unter 5000 Privatanlegern gemacht: 87 Prozent haben gesagt, sie wollen Hybrid- oder Präsenzformat. Das hybride Format würde das Beste beider Welten kombinieren. Aber es ist bislang die absolute Ausnahme. Hybride Treffen gab es bislang nur bei sehr wenigen Unternehmen, so zum Beispiel dem Arzneimittelversender Shop Apotheke, der Defama Fachmarkt AG sowie in der Vergangenheit der EQS Group. Das war‘s.

Sie sagen, die Aktionäre wollten das rein virtuelle Format nicht. Aber viele Aktionäre haben den Satzungsänderungen doch explizit zugestimmt, die den Unternehmen das virtuelle Format überhaupt erst erlauben. Wenn die Aktionäre aber zustimmen, wo ist das Problem?

Das Problem ist, dass dort viele Aktionäre abstimmen, die schlicht kein Interesse an der Hauptversammlung als solcher haben. Viele Investoren aus dem Ausland richten sich nach den Stimmempfehlungen der angelsächsischen Stimmrechtsberater wie ISS oder Glass Lewis. Sie wissen im Vorhinein, dass sie die Hauptversammlungen nicht besuchen, egal in welchem Format. Sie haben daher wenig Interesse an dieser Frage. Man kann das fast schon Apathie nennen.

Die deutschen Hauptversammlungen wirken manchmal aber auch merkwürdig mit all den Reden bedeutungsloser Kleinaktionäre, während parallel Würstchen und Kartoffelsalat gegessen werden.

Das deutsche Aktienrecht kommt historisch aus dem Vereinsrecht. Da gilt erstmal: Jeder darf sprechen. In Amerika geht es da viel härter zu. Was das Essen angeht: Wenn die Eigentümer kommen, soll es vernünftige Verpflegung geben. Das ist in anderen Ländern auch so. Über die Würstchen auf deutschen Hauptversammlungen wird übrigens meist von denen geredet, die sich über Kleinaktionäre lustig machen wollen. Mit dem Gerede vom Andrang an der Würstchentheke werden die legitimen Interessen von Kleinaktionären oft ins Lächerliche gezogen. Man kann den Unternehmen nur zurufen: Dann lasst die Würstchen halt weg.

Man hat aber mitunter den Eindruck, manchen Kleinaktionären gehe es eher um Selbstdarstellung in ihren Reden.

Die gibt es freilich auch. Manche Beiträge haben auf einer Hauptversammlung tatsächlich nichts zu suchen, egal ob virtuell oder in Präsenz. Aber in solchen Fällen muss der Versammlungsleiter eben auch mal durchgreifen und im Zweifelsfall das Mikrofon abstellen, wenn jemand völlig abschweift und nicht zur Tagesordnung redet. Es gibt genug disziplinarische Maßnahmen, um Selbstdarsteller in die Schranken zu weisen. Die werden oft einfach nicht genutzt.

Ist es noch zeitgemäß, dass jeder Aktionär Rederecht hat, selbst wenn er nur eine einzige Aktie besitzt? Das zieht doch Selbstdarsteller an, weil sie für wenig Geld das Recht bekommen, sich vor Tausenden Aktionären in den Mittelpunkt zu stellen.

Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich finde es schon sinnvoll, dass auch Kleinaktionäre einmal im Jahr Gehör finden. Großaktionären und institutionellen Investoren wird ohnehin regelmäßig zugehört.

Ein Bild aus früheren Tagen: eine Hauptversammlung der Deutschen Bank in der Frankfurter Festhalle
Ein Bild aus früheren Tagen: eine Hauptversammlung der Deutschen Bank in der Frankfurter Festhalledpa
Die Rednerliste spiegelt so aber nicht die echten Machtverhältnisse wider, wenn ein Kleinaktionär mit einer Aktie ebenso reden darf wie ein Großaktionär, dem 20 Prozent gehören.

Ja, aber wenn wir in Deutschland die Aktienkultur fördern wollen, sollten die Kleinaktionäre, die ihr mühsam Erspartes in ein Unternehmen investieren, auch einmal im Jahr die Vorstände treffen können. Eine Hauptversammlung sollte eigentlich das Hochfest der Aktionäre sein.

Es gibt den Vorschlag, das Rederecht auf solche Aktionäre zu beschränken, deren Anteile eine Mindestschwelle des Grundkapitals übersteigen. Wie finden Sie das?

Ich denke, wir sollten das Rederecht nicht beschränken. Aber es gibt heute schon bestimmte Schwellenwerte, damit die Hauptversammlung nicht von absoluten Minderheitsaktionären dominiert wird. Wer zum Beispiel die Tagesordnung ändern will, muss ein bestimmtes Quorum erfüllen. Das werte ich grundsätzlich auch als sinnvoll.

Das einfache Rederecht sorgt auch dafür, dass Hauptversammlungen stark politisiert werden. Bisweilen sprechen eher Umweltaktivisten als echte Anleger.

Manche Gruppen nutzen die Hauptversammlungen tatsächlich als Plattform. Aber das machen sie nur bei ganz wenigen Unternehmen. Und diese Unternehmen haben meist auch ein echtes Problem. Die Einwände der Gruppen sind oft berechtigt, sei es im Umweltschutz, in sozialen Belangen oder bei Fragen der guten Unternehmensführung. ESG ist ein zen­trales Thema. In den virtuellen Treffen kommt das oft zu kurz.

Manche Großaktionäre bleiben auffällig im Hintergrund. Der Siegeszug der ETF hat dazu geführt, dass in vielen Dax-Unternehmen ETF-Anbieter wie Blackrock oder Vanguard zu den größten Aktionären gehören. Wie treten die auf den Hauptversammlungen auf?

Gar nicht. Die stimmen zwar ab, aber die reden nicht. Ich habe noch nie einen Vertreter von Blackrock auf einer Hauptversammlung reden hören. Die haben andere Kanäle, um Gehör zu finden, die den Kleinaktionären eben nicht offen stehen.

Hätte man die Hauptversammlung nach der Pandemie nicht noch umfassender reformieren müssen?

Ich glaube, das kommt noch. Im Zuge der Pandemie hat jetzt erstmal die Industrie die Chance genutzt, die virtuelle Hauptversammlung dauerhaft im Aktiengesetz zu verankern. Über die Zukunft der Hauptversammlung muss man aber noch mal ganz grundsätzlich nachdenken. Aber nicht jetzt.

Die Unternehmen würden auch gerne das Beschlussmängelrecht neu regeln.

Die Angst der Juristen vor Anfechtungsklagen ist groß. Sie wollen alles rechtssicher über die Bühne bringen. Das Wichtigste für sie ist, diesen Tag ohne Blessuren zu überstehen, egal wie. Wir Aktionärsschützer sind aber strikt gegen eine Änderung des Beschlussmängelrechts. Die Anfechtungsklagen sind ohnehin schon ganz deutlich zurückgegangen.

Aber würden höhere Hürden vor Anfechtungsklagen nicht die ganze Stimmung entspannen? Die Furcht vor Anfechtungsklagen ist doch ein wichtiger Grund, warum die Treffen so überformalisiert sind. Kleingedrucktes statt Substanz …

Damit kommen die Unternehmen sehr oft. Dann betonen sie gerne, dass Hauptversammlungen im Ausland weniger Zeit beanspruchen würden, weil es dort kein vergleichbares Beschlussmängelrecht gibt. Das stimmt zwar teilweise, aber dafür haften dort Vorstände für Managementfehler oft viel stärker gegenüber den Aktionären. Es gibt im Ausland auch viele sehr aktionärsfreundliche Regeln. In Frankreich und in den Niederlanden spricht auch der Wirtschaftsprüfer auf der Hauptversammlung...

...das wäre auch bei uns sinnvoll, oder?

Ja, auf jeden Fall. Das würde richtig weiterhelfen. Vor allem, wenn Wirtschaftsprüfer auf der Hauptversammlung auch Fragen der Aktionäre beantworten müssten. Das sollte eigentlich die Lehre aus dem Fall Wirecard sein. Die Prüfer müssen viel stärker ins Scheinwerferlicht.