Virtuelle Hauptversammlungen : „Man muss die Halle spüren“
Sperrig. Oft kam es zu technischen Pannen. Teils fiel die Technik aus, es gab ohne Ende Pausen. Manchmal wussten die Aktionäre zu Hause vor ihren Laptops gar nicht, ob die Versammlung noch läuft. Wir haben eine ganze Liste von Pannen dokumentiert, darunter Covestro, TUI und Siemens Energy. Die virtuelle Hauptversammlung von Covestro hat mehr als neun Stunden gedauert, dreieinhalb Stunden davon gingen für Pannen drauf.
So redet sich die Industrie jetzt raus: alles Einzelfälle angeblich, man brauche halt etwas Zeit. Tatsächlich läuft die Hauptversammlungssaison jetzt schon mehr als vier Monate, wir sind in der zweiten Halbzeit. Es hat sich nichts gebessert.
Mein Eindruck ist: Viele Unternehmen flüchten mit der virtuellen Hauptversammlung vor ihren Eigentümern. Es wird sich irgendwann rächen, wenn die Aktionäre den Dialog suchen, die Vorstände sich aber abschotten. Die virtuelle Hauptversammlung ist ein deutscher Sonderweg. Die Aktionäre etwa in Frankreich und Holland treffen sich längst wieder in Präsenz. Wir sind das einzige Land, in dem das virtuelle Format nach der Pandemie noch so kultiviert wird.
Schrecklich. Ich war da teilweise der einzige, der ein Videoschnipsel eingeschickt hat. Das kann ich auch verstehen, es lohnt sich einfach nicht. Ich habe insgesamt in den drei Jahren Pandemie etwa 50 bis 60 kurze Videos gedreht. Aber es hat sich gezeigt, dass sich die Videos kaum jemand ansieht, die Onlineabrufzahlen sind wirklich niedrig. Manchmal war das Video nur schwer zu finden.
Es sind hauptsächlich die großen Unternehmen, die sich im virtuellen Format verstecken. Je kleiner die Unternehmen, desto eher wählen sie das Präsenzformat. Im M-Dax sind es nach den bisherigen Ankündigungen schon 24 in Präsenz und 20 virtuell; im S-Dax bislang 39 Präsenz und 25 virtuell.
Sie haben mehr Kontrolle über den Verlauf der Treffen. Viele Manager und deren Juristen haben Angst davor, die Stimmung nicht kontrollieren zu können.
Die meisten Hauptversammlungen sind völlig unspektakulär. Wenn es turbulent wird, dann meist aus gutem Grund. Denken Sie an die Bayer-Hauptversammlung 2019, auf der die Aktionäre dem damaligen Bayer-Chef Werner Baumann nach dem Monsanto-Desaster, das die Aktionäre viele Milliarden gekostet hat, die Entlastung verweigert haben. Eine Präsenzhauptversammlung kann für den Aufsichtsrat ein wertvoller Gradmesser sein, eine Art Fieberthermometer, wie die Stimmung unter den Investoren ist. Dafür muss man die Halle spüren. Ein guter Aufsichtsrat saugt wie ein trockener Schwamm auf, was die Aktionäre dort sagen.
Ja, das sollten sie und tun sie auch. Es sind eher die Vorstände, die sich sorgen, dass die Stimmung kippt und daher froh sind, wenn sie diesen Tag ausgestanden haben. Im Präsenzformat können Aktionäre viel besser sehen, ob ihnen wirklich zugehört wird.
Das betont die Industrie gerne. Aber sind wir mal ehrlich: Niemand an der US-Westküste steht mitten in der Nacht auf, um an einer deutschen Hauptversammlung teilzunehmen.
So argumentieren sie gerne, aber das stimmt nicht. Der steile Anstieg der Anwesenheit lag schon vor der Pandemie, seit 2018 stagniert die Anwesenheit auf hohem Niveau bei etwa 67 Prozent des Grundkapitals. Wenn den Unternehmen wirklich so wichtig wäre, dass jeder Aktionär von überall teilnehmen kann, dann wäre doch das hybride Format eigentlich das richtige. Also ein Präsentreffen, bei dem man sich wahlweise online zuschalten kann. Solche Treffen sind rein gesetzlich schon seit 14 Jahren erlaubt, aber die Industrie wollte nie etwas davon wissen – bis heute. Dabei ist das Hybridformat eindeutig das Wunschmodell der Aktionäre. Wir haben eine Umfrage unter 5000 Privatanlegern gemacht: 87 Prozent haben gesagt, sie wollen Hybrid- oder Präsenzformat. Das hybride Format würde das Beste beider Welten kombinieren. Aber es ist bislang die absolute Ausnahme. Hybride Treffen gab es bislang nur bei sehr wenigen Unternehmen, so zum Beispiel dem Arzneimittelversender Shop Apotheke, der Defama Fachmarkt AG sowie in der Vergangenheit der EQS Group. Das war‘s.
Das Problem ist, dass dort viele Aktionäre abstimmen, die schlicht kein Interesse an der Hauptversammlung als solcher haben. Viele Investoren aus dem Ausland richten sich nach den Stimmempfehlungen der angelsächsischen Stimmrechtsberater wie ISS oder Glass Lewis. Sie wissen im Vorhinein, dass sie die Hauptversammlungen nicht besuchen, egal in welchem Format. Sie haben daher wenig Interesse an dieser Frage. Man kann das fast schon Apathie nennen.
Das deutsche Aktienrecht kommt historisch aus dem Vereinsrecht. Da gilt erstmal: Jeder darf sprechen. In Amerika geht es da viel härter zu. Was das Essen angeht: Wenn die Eigentümer kommen, soll es vernünftige Verpflegung geben. Das ist in anderen Ländern auch so. Über die Würstchen auf deutschen Hauptversammlungen wird übrigens meist von denen geredet, die sich über Kleinaktionäre lustig machen wollen. Mit dem Gerede vom Andrang an der Würstchentheke werden die legitimen Interessen von Kleinaktionären oft ins Lächerliche gezogen. Man kann den Unternehmen nur zurufen: Dann lasst die Würstchen halt weg.
Die gibt es freilich auch. Manche Beiträge haben auf einer Hauptversammlung tatsächlich nichts zu suchen, egal ob virtuell oder in Präsenz. Aber in solchen Fällen muss der Versammlungsleiter eben auch mal durchgreifen und im Zweifelsfall das Mikrofon abstellen, wenn jemand völlig abschweift und nicht zur Tagesordnung redet. Es gibt genug disziplinarische Maßnahmen, um Selbstdarsteller in die Schranken zu weisen. Die werden oft einfach nicht genutzt.
Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich finde es schon sinnvoll, dass auch Kleinaktionäre einmal im Jahr Gehör finden. Großaktionären und institutionellen Investoren wird ohnehin regelmäßig zugehört.
Ja, aber wenn wir in Deutschland die Aktienkultur fördern wollen, sollten die Kleinaktionäre, die ihr mühsam Erspartes in ein Unternehmen investieren, auch einmal im Jahr die Vorstände treffen können. Eine Hauptversammlung sollte eigentlich das Hochfest der Aktionäre sein.
Ich denke, wir sollten das Rederecht nicht beschränken. Aber es gibt heute schon bestimmte Schwellenwerte, damit die Hauptversammlung nicht von absoluten Minderheitsaktionären dominiert wird. Wer zum Beispiel die Tagesordnung ändern will, muss ein bestimmtes Quorum erfüllen. Das werte ich grundsätzlich auch als sinnvoll.
Manche Gruppen nutzen die Hauptversammlungen tatsächlich als Plattform. Aber das machen sie nur bei ganz wenigen Unternehmen. Und diese Unternehmen haben meist auch ein echtes Problem. Die Einwände der Gruppen sind oft berechtigt, sei es im Umweltschutz, in sozialen Belangen oder bei Fragen der guten Unternehmensführung. ESG ist ein zentrales Thema. In den virtuellen Treffen kommt das oft zu kurz.
Gar nicht. Die stimmen zwar ab, aber die reden nicht. Ich habe noch nie einen Vertreter von Blackrock auf einer Hauptversammlung reden hören. Die haben andere Kanäle, um Gehör zu finden, die den Kleinaktionären eben nicht offen stehen.
Ich glaube, das kommt noch. Im Zuge der Pandemie hat jetzt erstmal die Industrie die Chance genutzt, die virtuelle Hauptversammlung dauerhaft im Aktiengesetz zu verankern. Über die Zukunft der Hauptversammlung muss man aber noch mal ganz grundsätzlich nachdenken. Aber nicht jetzt.
Die Angst der Juristen vor Anfechtungsklagen ist groß. Sie wollen alles rechtssicher über die Bühne bringen. Das Wichtigste für sie ist, diesen Tag ohne Blessuren zu überstehen, egal wie. Wir Aktionärsschützer sind aber strikt gegen eine Änderung des Beschlussmängelrechts. Die Anfechtungsklagen sind ohnehin schon ganz deutlich zurückgegangen.
Damit kommen die Unternehmen sehr oft. Dann betonen sie gerne, dass Hauptversammlungen im Ausland weniger Zeit beanspruchen würden, weil es dort kein vergleichbares Beschlussmängelrecht gibt. Das stimmt zwar teilweise, aber dafür haften dort Vorstände für Managementfehler oft viel stärker gegenüber den Aktionären. Es gibt im Ausland auch viele sehr aktionärsfreundliche Regeln. In Frankreich und in den Niederlanden spricht auch der Wirtschaftsprüfer auf der Hauptversammlung...
Ja, auf jeden Fall. Das würde richtig weiterhelfen. Vor allem, wenn Wirtschaftsprüfer auf der Hauptversammlung auch Fragen der Aktionäre beantworten müssten. Das sollte eigentlich die Lehre aus dem Fall Wirecard sein. Die Prüfer müssen viel stärker ins Scheinwerferlicht.